Lektion 2 – Philosophische Grundlagen

In dieser Lektion schauen wir uns zwei grundlegende philosophische Fragen an, die wir als Astrologen laufend reflektieren sollten. Die erste Frage hat damit zu tun, wie es überhaupt sein kann, dass Astrologie funktioniert. Wieso können wir anhand himmlischer Beobachtungen Aussagen treffen zu unseren Leben hier auf der Erde? Welcher Art ist der Zusammenhang zwischen Himmel und Erde? Es gibt hier grundsätzlich zwei unterschiedliche Erklärungsansätze. Entweder man nimmt einen physikalisch-kausalen Wirkungszusammenhang an, bei dem die Planeten eine kausale Wirkung auf uns haben. Oder man geht von einer Korrelation aus, bei dem die Planetenstellungen nicht auf uns wirken, sondern mit uns korrelieren. In dieser Sichtweise dienen die Planeten bloss als Zeichen, anhand derer wir Folgerungen für unser Leben treffen können. Insbesondere dieser zweite Ansatz, der stark von der Philosophie Platons geprägt ist, spiegelt sich in der Grundstruktur des Horoskops wieder.

Ein zweites philosophisches Problem, dem wir uns als Astrologen stellen müssen, ist die Frage um den freien Willen. Wenn Astrologie funktionieren kann, dann folgt daraus zwangsläufig, dass der freie Wille zumindest teilweise eingeschränkt sein muss. Vereinfacht gesagt können wir uns ein Spektrum vorstellen, bei dem ein absoluter freier Wille den einen Pol bildet und ein harter, absoluter Determinismus den anderen Pol.

Absoluter Freier Wille <––––––––––––|––––––––––––> Absoluter Determinismus

In der Gegenwart würden sich die meisten Menschen in unserem Kulturraum irgendwo auf der linken Seite dieses Spektrums verorten. Die Menschen der vorchristlichen Antike hätten sich hingegen eher irgendwo auf der rechten Seite gesehen. Aber selbst in der Antike glaubte man wohl eher selten an einen absoluten Determinismus. Denn es gab zahlreiche Möglichkeiten, wie man auf sein eigenes Schicksal Einfluss nehmen konnte.

Dabei spielen zwei Arten von Göttern oder Geistwesen eine besondere Rolle: der Daimon und die Tyche/Fortuna. Der Daimon ist eine Art persönlicher Schutzgeist und hat mit unserer Intention und unserem Handeln zu tun. Er steht für unser Bewusstsein und wie wir auf verschiedene Umstände und Situationen reagieren. Die Tyche steht ihrerseits für die eben genannten Umstände und Situationen, genauer symbolisiert sie die Faktoren Glück und Zufall (das, was uns zufällt). Daimon und Tyche sind eng miteinander verbunden, zumal unser Leben ein ständiges Zusammenspiel dieser beiden Faktoren ist. Daimon und Tyche spielen eine zentrale Rolle in der Logik der hellenistischen Astrologie.

Du findest hier die Aufnahme der Lektion sowie meine stichwortartigen Notizen. Zudem findest du noch spezifische Literaturempfehlungen und Links zu diesem Thema. Ich empfehle dir insbesondere mal den Er-Mythos zu lesen.

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Notizen

Zur weiteren Vertiefung

1.) Der Er-Mythos. Dieser kurze Mythos zeigt sehr schön Platons Vorstellung von der Reinkarnation und wie die Seele im Jenseits ihr Schicksal und den Daimon wählt. Der Kontext der Geschichte ist, dass der Krieger „Er“ in der Schlacht gefallen ist und dabei eine Art Nahtoderfahrung macht. Er kommt dann wieder zurück ins Leben und berichtet, was er im Jenseits erlebt hat. Eine deutsche Übersetzung des Er-Mythos findest du unter folgendem Link (Seite öffnet in neuem Tab): https://www.gottwein.de/Grie/plat/PlatStaat619b.php

2.) Platons Kosmologie wird vor allem in seinem Werk „Timaios“ präsentiert. Dieses Werk ist leider so bedeutsam wie schwierig. Eine deutsche Übersetzung findest du unter folgendem Link (Seite öffnet in neuem Tab): http://www.opera-platonis.de/Timaios.pdf

3.) Das beste Buch zum Thema Daimon ist: „The Daimon in Hellenistic Astrology“ von Dorian Gieseler Greenbaum (Brill, 2016). Dies ist ein hervorragendes, sehr umfassendes wissenschaftliches Werk in akademischem Englisch und richtet sich weniger an den praktizierenden Astrologen. Leider auch ziemlich teuer (vielleicht findest du es in einer Bibliothek).

4.) Als Beispiel für einen Vertreter eines harten, absoluten Determinismus sei hier das kürzlich erschienene englische Buch „Determined – Life Without Free Will“ von Robert M. Sapolsky (2023) erwähnt.